Von den Nachkriegsjahren bis in die 80er Jahre bedeutete die Kindheit und Jugend im Heim vielfach ein düsteres Kapitel im Leben von jungen Menschen, nicht selten geprägt von seelischer, physischer, psychischer oder sexualisierter Gewalt. Der LVkE hat sich im Zuge der verbandlichen Aufarbeitung dazu entschieden einen Film zu machen, der die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt, um dem Thema öffentliche Aufmerksamkeit zu geben. Beispielhaft berichten in „Ich wollte leben, aber ich wusste nicht, wie …“ Brigitte Molnar und Peter-Alfred Blickle eindrücklich und bewegend über ihr Schicksal und welche Auswirkungen dieses für ihren Lebensweg hatte.
Mit ihren Erinnerungen an die Heimkindheit schafft Brigitte Molnar eine lebhafte Vorstellung von Isolierung und Gewalt, die das Leben im Heim fest im Griff hatten. Ein trüber Ort, an dem wenig Platz für die Bedürfnisse von Kindern war.
Auch Peter-Alfred Blickle erinnert sich an vielfältige Gewalterfahrungen. Ihre Erzählungen beinhalten unvorstellbares Leid – vom Zwang, Erbrochenes noch einmal essen zu müssen über körperlichen und sexuellen Missbrauch bis hin zu dem Gefühl, keinen Wert in der Gesellschaft zu haben, ein Niemand – unsichtbar zu sein.
Beide Schicksale stehen stellvertretend für das von vielen Heimkindern. Was sie eint ist auch der Wunsch, wahrgenommen zu werden und Sensibilisierung und Umdenken zu erreichen. Brigitte Molnar und Peter-Alfred Blickle haben sich entschieden mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Ganz wesentlich ist der Wunsch gesehen zu werden.
Der LVkE hat höchsten Respekt vor dem Mut der Protagonist:innen, die so offen und vertrauensvoll ihre Geschichte teilen und gleichzeitig das Los vieler anderer ehemaliger Heimkinderrepräsentieren. Der Film soll einen Beitrag dazu leisten, Türen zu einer Welt zu öffnen, die oft im Schatten liegt und gleichsam Teil einer nachhaltigen Erinnerungskultur werden. Es sollen die Geschichten derjenigen im Mittelpunkt stehen, die in Heimen aufgewachsen sind und Unrecht erlitten haben. Der LVkE setzt sich seit vielen Jahren mit diesem dunklen Kapitel der Heimerziehung auseinander und wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen, dass das Geschehene nicht in Vergessenheit gerät und die Wichtigkeit des Kinderschutzes und Gewaltschutzes weiter in die Ausbildung und die Lehre einfließt.
Skizzierung der Entwicklungslinien von Heimerziehung
Der Film „Ich wollte leben, aber ich wusste nicht, wie …“ dokumentiert in bewegender Weise die Erfahrungen zweier Menschen mit der Heimerziehung der Nachkriegsjahre bis in die 1980er Jahre. Er skizziert anhand ihrer Lebensgeschichten zentrale Missstände in der Heimerziehung dieser Zeit und dokumentiert das erfahrene Leid der Betroffenen.
1967 erfolgten erste öffentliche Berichte über Missstände in Kinderheimen: Die ersten Berichte über Missstände in deutschen Kinderheimen, darunter Misshandlungen und Zwangsarbeit, sorgten für Empörung.
In den 1970er Jahre erfolgte dann ein Wandel in der Heimerziehung: Die öffentliche Kritik führte zu Reformen in der Heimerziehung. Die Methoden der autoritären Erziehung, oft praktiziert in kirchlichen Einrichtungen, wurden zunehmend hinterfragt. Neue pädagogische Konzepte setzten auf Partizipation und Förderung der Kinderrechte.
2006 reichten betroffene Menschen dieses dunklen Kapitels der Heimerziehung eine Petition beim deutschen Bundestag ein, in der Folge wurde der „Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ eingerichtet. Im Rahmen dieses Runden Tisches fand eine Analyse und Bewertung der Missstände der Heimerziehung in dieser Zeit statt. Das Leid und das Unrecht, das Heimkinder erfahren haben, fand endlich Anerkennung. 2012 errichteten Bund, Länder und die Kirchen einen Fond „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1973“, damit verbunden war die Einrichtung von Anlauf- und Beratungsstellen in den Bundesländern.
Der Abschlussbericht der Kommission, der 2010 veröffentlicht wurde, arbeitet auch gesellschaftliche, strukturelle, konzeptionelle und personelle Rahmenbedingungen der Heimerziehung der 50er bis 70er Jahre heraus, die einen oft entwürdigenden und von Unrecht und Leid geprägten Aufenthalt in einer Einrichtung begünstigten. Dies reicht z.B. von einer unklaren, niederschwelligen und willkürlichen Indikation für eine Heimerziehung, fehlender Beteiligung an der Aufnahme und der Ausgestaltung, einer unzureichenden Qualifikation der Mitarbeitenden, großen Gruppen bei geringer Personalausstattung, der Umsetzung demütigender und körperlicher Strafpraxen und Zwangsmaßnahmen bis hin zu fehlenden Kontrollmechanismen und einer Organisationsstruktur, die das Offenlegen von Fehlverhalten und eine Transparenz innerhalb und nach außen verhinderten.
Welche Entwicklung hat die Heimerziehung, heute als Hilfen zur Erziehung in stationärer Form im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (SGB VIII) normiert, genommen? Wie sind die Rahmenbedingungen heute gestaltet, um jungen Menschen eine Hilfe anzubieten, die den Schutz vor Missbrauch in den stationären Hilfen und eine gewaltfreie und dem Kindeswohl zuträgliche Erziehung im Fokus haben?
Ein wesentlicher und zentraler Aspekt ist die Qualifizierung von Fachkräften durch die Weiterentwicklung der Fachakademien für Sozialpädagogik sowie dem Ausbau der Fachhochschulen für Sozialpädagogik/Soziale Arbeit seit den 1970er Jahren. Der Einsatz qualifizierter pädagogischer und therapeutischer Fachkräfte sowie die entsprechende Kontrolle durch die Heimaufsicht ist ein Grundpfeiler der konzeptionellen Ausrichtung und Grundlage für die Erteilung einer Betriebserlaubnis. Weiter bietet jede Einrichtung Fort- und Weiterbildungsangebote sowie in der Regel Supervisionsmöglichkeiten für die Mitarbeiter:innen. Damit finden auch pädagogische Konzepte wie zum Beispiel die traumapädagogische Orientierung, Deeskalationsstrategien oder auch der Ausbau weiterer heilpädagogischer Handlungskompetenzen Eingang in die Heimerziehung.
Durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990/91 und den diversen Weiterentwicklungen, wie z.B.
Stationäre Hilfen unterliegen heute einer heimaufsichtlichen Kontrolle, die zum einen die personelle Ausstattung unter dem Aspekt des Fachkräftegebotes, aber auch die konzeptionellen Rahmenbedingungen kontrolliert und Einrichtungen auch beratend zur Seite steht. Stationäre Einrichtungen sind verpflichtet, sog. meldepflichtige Vorfälle, hierzu gehören auch schwere körperlich oder sexuell grenzverletzende Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen untereinander oder durch Mitarbeiter:innen, der Heimaufsicht mitzuteilen.
Teil einer Betriebserlaubnis ist die Verpflichtung zur Installation partizipativer Strukturen und Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Die Ausgestaltung der Partizipationsstrukturen führt in vielen Einrichtung zu Heimräten oder Vertretungsgremien. Auf Landesebene ist der Landesheimrat Bayern (https://landesheimrat.bayern.de/ ), ein gewähltes Interessenvertretungsgremium für Kinder und Jugendliche der stationären Erziehungs- und Behindertenhilfe.
Stationäre Einrichtungen haben regelhaft Präventions- und Schutzkonzepte entwickelt und verpflichten sich zu entsprechenden Schulungen der Mitarbeiter:innen. Dies beinhaltet auch Möglichkeiten der Offenlegung und der Kommunikation bei wahrgenommenen Fehlverhalten von Kolleg:innen. Jede Einrichtung der stationären Hilfe zur Erziehung ist verpflichtet, seine Mitarbeiter:innen darüber hinaus regelmäßig über das Recht der jungen Menschen auf eine gewaltfreie Erziehung und den Einsatz von Erziehungsmittel zu informieren und dies zu kontrollieren. Die Rahmenbedingungen hierfür werden in den Fachlichen Empfehlungen zur Heimerziehung gemäß § 34 des Bayerischen Landesjugendamtes zugrunde gelegt.
Bezüglich der Anwendung von erzieherischen Maßnahmen wie z.B. Time-Out-Maßnahmen gibt es orientierende Handlungsleitlinien, diese sind z.B. in den Empfehlungen der BAGLJÄ (Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjungendämter) formuliert.
Jede stationäre Hilfe wird durch ein Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII begleitet, dies bildet in regelmäßigen Abständen die Reflexionsmöglichkeit zur Entwicklung des jungen Menschen im Zusammenspiel des Leistungserbringers (der Einrichtung) und dem zuständigen Jugendamt ab.
Die öffentlichen Träger (Jugendämter), die freien Träger (Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe) sowie die Verbände (z.B. LVKE) verpflichten sich zu einer qualifizierten, partizipativen und transparenten Angebotsstruktur für junge Menschen. Begleitet und reguliert wird dies durch Unterstützungs- und Kontrollmechanismen durch die Heimaufsichten sowie durch Qualitäts- und Leistungsvereinbarungen. Diese Vereinbarungen sind ebenfalls gesetzlich geregelt.
Damit verschließen wir nicht die Augen vor dem erlittenen Leid und Unrecht junger Menschen in der Heimerziehung. In Bayern wurde nach den bundesweit zunächst temporär installierten Anlaufstellen eine dauerhafte Beratungsstelle für Menschen mit Heimerfahrung in der Kindheit und Jugend (BMH), angesiedelt beim Bayerischen Landesjugendamt, eingerichtet.
Als Erinnerungsort für die Leid- und Unrechtserfahrungen steht vor dem Bayerischen Landesjugendamt das 2023 eingeweihte Kunstwerk „In the name of“ des Künstlers Bruno Wank. Über einen QR-Code im Ohr des Bären können mehr Informationen zu dieser Thematik abgerufen werden. Das Kunstwerk ist aber nicht nur Erinnerungsort, sondern auch Mahnmal und Auftrag, stationäre Hilfen so zu gestalten und weiterzuentwickeln, dass sich vergleichbares Leid und Unrecht nicht wiederholen kann.
Autor: Dr. phil. Norbert Beck, Einrichtungsleiter Therapeutisches Heim Sankt Joseph im SkF und Verbundleiter Überregionales Beratungs- und Behandlungszentrum (ÜBBZ) Würzburg
Die ersten Berichte über Missstände in deutschen Kinderheimen, darunter Misshandlungen und Zwangsarbeit, sorgen für Empörung.
Öffentliche Kritik führt zu Reformen in der Heimerziehung. Die Methoden der autoritären Erziehung, oft praktiziert in kirchlichen Einrichtungen, werden zunehmend hinterfragt. Neue pädagogische Konzepte setzen auf Partizipation und Förderung der Kinderrechte.
Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz werden erstmals Rechte für Kinder und Jugendliche in Heimen gesetzlich verankert. Der Schutz der Kinder vor Gewalt und Missbrauch rückt in den Mittelpunkt. Es betont die Notwendigkeit von Schutz und Beteiligung der Kinder.
Die Reform stärkt die Rechte von Kindern und Jugendlichen und regelt den Schutz vor körperlichen und psychischen Gefahren. Sie bezieht sich auch auf institutionelle Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Kinderheime.
Im Rahmen der Petition werden u.a. die missbräuchlichen Erziehungsmethoden, Gewalt, Bestrafung und Ausbeutung angeprangert.
Der „Runde Tisch Heimerziehung“ wird zur Aufarbeitung des systematischen Missbrauchs von Kindern in den 1950er bis 1970er Jahren eingerichtet. Ehemalige Heimkinder erhalten eine Entschädigung für das erlittene Unrecht. Dabei wird die Rolle der Kirchen scharf kritisiert, da sie jahrzehntelang Missstände ignorierten und Betroffenen oft wenig Unterstützung zukommen ließen. Ende 2010 wird der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung veröffentlicht.
Alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind gesetzlich verpflichtet, Schutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen, um Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Missbrauch zu schützen.
Die Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder findet ihre Fortsetzung in der neuen Beratungsstelle für Menschen mit Heimerfahrung in Kindheit und Jugend (BMH), die Anfang 2023 ihre Arbeit aufnahm.
Im Zuge einer Anhörung von ehemaligen Heimkindern am 12.6.2012, konstituierte sich am 28.1.2014 der Beirat der Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder. Seine Funktion ist die Begleitung der Anlauf- und Beratungsstelle. Des Weiteren ist er Ansprechpartner für sozialpolitisch verantwortliche Stellen in anderen Bundesländern. Er setzt sich aus 6 ehemaligen Heimkindern sowie 6 Vertreterinnen und Vertretern aus der Wissenschaft, dem Staatsministerium, Trägern sowie christl. Kirchen.
Um den Betroffenen zu helfen, haben der Bund, die Länder und die Kirchen die Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ und „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ eingerichtet.
Es wird ein Entwurf zur Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz vorgelegt, der auch den Schutz von Kindern in Einrichtungen verbessern soll. Trotz intensiver Diskussionen wird der Entwurf bis heute nicht umgesetzt.
Mit dem neuen Gesetz werden die Rechte von Kindern in Pflegefamilien und Heimen weiter gestärkt. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Kinderschutz und der Beteiligung der Kinder bei allen sie betreffenden Entscheidungen.
Dies gipfelte 2023 in der Einweihung der Skulptur „in the name of“: Mit der Skulptur eines goldenen Bären, der einen QR-Coder im Ohr trägt für weiterführende Informationen, haben die Bayerische Staatsregierung und die beiden großen Kirchen einen Ort der Erinnerung an das Leid von Betroffenen geschaffen.
Abschlussbericht des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ):
https://www.agj.de/fileadmin/files/…
Leitlinien des Deutschen Caritasverbandes (DCV) für den Umgang mit sexualisierter Gewalt:
https://www.caritas.de/fuerprofis/fach…
Bayerische Beratungsstelle für Menschen mit Heimerfahrung in der Kindheit und Jugend (BMH):
https://www.blja.bayern.de/hilfen/beratungs…
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